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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1969/0240
Neues Schrifttum

land heimisch gewordenen Eidgenossen. Man möchte es im Anschluß an Jacques Droz
einen „moralischen Nationalismus", eingebettet in kosmopolitische Relikte aus dem frühen
19. Jahrhundert, nennen, wie er im liberal-protestantischen Deutschland weit verbreitet
war. So spielte auch bei Geizer der Kampf gegen Rom, des Germanismus gegen den Romanismus
eine große Rolle. Freilich trug er seine Vorstellungen von einem deutschen Beruf
sehr viel subtiler vor als der „flache Liberalismus" der Zeit, von dem er sich ebenso distanzierte
wie vom „Borussianismus". Noch mehr und zunehmend schroffer hat er sich von
Bismarck abgesetzt, der „vielleicht die größte Gefahr für Deutschlands Gegenwart und
Zukunft geworden"! (S. 312). Nun ist freilich aus all den „Credos", den „Reden an die
Nation" oder gar der Absicht, Bismarcks wegen vor das Gewissen der Nation zu treten,
nichts geworden. Das lag zum größten Teil an Geizers introvertierter, nicht selten von
Schwermut heimgesuchter Persönlichkeit, die den Weg vom „Gelübde" zur Tat nicht fand,
zum Teil aber auch an der Zeit, die immer stärker dem Materialismus und einer von moralischen
Bindungen freien Machtpolitik anheimfiel und damit das Organ zur Aufnahme ethischer
Appelle verlor. So war Geizer, ähnlich seinem Landsmann Jakob Burckhardt, ein
„Unzeitgemäßer" geworden. Unter solchen Vorzeichen blieb dann auch die von ihm und
dem Großherzog schon 1863 gemeinsam ins Leben gerufene „Steinstiftung", die Geizer bald
als seine Lebensaufgabe ansah, in den Statuten hängen. Doch zeugt das Vorhaben, geplant,
um „auf die sittliche, politische, religiöse Bildung und Gesinnung der Nation" einzuwirken,
vom hohen Glauben des Großherzogs und seines Kreises an die Macht der Ideen und der
Erziehung, dies ohne Zweifel ein Erbe jenes Liberalismus, der glaubte, daß der rechten
Erziehung auch das rechte politische Verhalten folgen werde. Im Kontext der Zeit gesehen,
mutet ein solcher Glaube freilich wie das Residuum einer gewiß hochachtbaren, ethischen
Werten verpflichteten Gesinnung an, hinter die man sich vor den primär politischen und
sozialen Anforderungen des heraufziehenden industriellen Zeitalters zurückzog.

In offensichtlich kompensatorischem Gegensatz zu Geizers fruchtlosen Ansätzen, der
„Lehrer und Führer der Nation" zu werden, andererseits aber doch auch wieder seinem
Bedürfnis entsprungen, „Vaterland und Menschheit" im Sinn seines erzieherischen Selbstauftrags
zu dienen, stand dann seine diplomatische Geschäftigkeit. Schon 1856/57 hat er sich
aus freien Stücken als Vermittler zwischen Preußen und der Schweiz im Streit um Neuenburg
mit Erfolg zur Verfügung gestellt. Dann wurde er von König Wilhelm wie auch vom
Großherzog immer wieder mit diplomatischen Aufträgen betraut, so 1870, als er die Entwicklung
in Rom beobachten sollte. Danach setzte er diese Tätigkeit aus eigenem Antrieb
fort. Erstaunlich, wie sich ihm dabei buchstäblich alle Türen öffneten, die Bismarcks allerdings
ausgenommen. Aus seinen Informationsreisen und zahlreichen Gesprächen gingen
dann ebenso zahlreiche Denkschriften für den Kaiser, den Großherzog und - für sich selbst
hervor. Sein erklärtes, viel zu hoch gestecktes und auch kaum noch zeitgemäßes Ziel, auf
politischem Gebiet eine ähnliche Stellung zu erreichen, wie sie sein Vorbild Christian Friedrich
Freiherr von Stockmar eingenommen hatte, der als Berater erst Leopolds von Belgien,
dann des Prinzgemahls Albert von England dort wie hier ein heimlicher Mitregent geworden
war, hat er dann freilich auch nicht erreicht.

Es ist keine Frage, daß der Großherzog die „großen Gedanken" (Fuchs) seines Freundes
teilte und daß sie ihm zu Maßstab und Wegweisung für sein eigenes Tun und Planen
geworden waren. Darüber hinaus fungierte Geizer offensichtlich als der Seelentrost eines
Fürsten, dem es ein Bedürfnis war, sich auszusprechen und sich zu rechtfertigen. Das Fazit
freilich, das der heutige Leser gerade aus den Gelzerpartien ziehen wird und das Fuchs
in seinem vorzüglichen Vorwort dann auch gezogen hat, kann wohl nur so lauten: Geizer,
„der überständige Anhänger des Biedermeier, der in maßloser Überschätzung sich zu dem
erlösenden Wort an die Nation berufen fühlte und es doch nicht finden konnte, der vielgeschäftig
in Diplomatie und Politik dilettierte, stets nur Gefahren in der Welt sah und
sich doch ihrem Anspruch nicht stellte. War das die Welt des aktivsten, uneigennützigsten

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