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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1976/0206
Neues Schrifttum

mittelbare Nachbarschaft zu Frankreich, von wo die liberalen Ideen einströmen konnten *,
das wenig homogen zustandegekommene Land, in dem eine liberal-aufgeklärte Bürokratie
nahezu zwangsläufig zum wichtigsten Integrationsfaktor werden mußte, aus demselben
Grund die frühe Notwendigkeit einer Konstitution als „Bindeglied heterogener
Staatsteile" 2, neben einer noch schmalen bürgerlichen Oberschicht eine breite politisch aktive
Unterschicht, zwar nicht durchgängig und oft genug weniger im Sinn der liberalen
Führungsschicht als in demokratisch-revolutionärem, aber eben dadurch die politische
Landschaft belebend, dann auch solche Strömungen wie etwa der Wessenbergianismus
aus den Anfängen des Jahrhunderts, der fortwirkend weite Teile des katholischen Bürgertums
ebenfalls in die Reihen der Liberalen führte, und nicht zuletzt ein Fürst wie Großherzog
Friedrich L, der um 1860 den Liberalismus schließlich hoffähig machte. Lange Zeit
wurde dieser Befund als Gütezeichen des südwestdeutschen Landes mehr oder weniger unbesehen
hingenommen, dies umso mehr, als sich Baden auch auf dem Weg in den kleindeutsch
-preußischen Nationalstaat mustergültig verhielt, so daß eine national orientierte
Geschichtsschreibung nicht lange nach eventuellen Kehrseiten fragen mochte. Nun freilich
beginnt der Glanz matter zu werden. 1968 veröffentlichte Lothar Gall sein Buch über den
badischen Liberalismus als regierende Partei. Mit leichter Sympathie für den rechten, mehr
und mehr realistisch denkenden Flügel des Liberalismus zeichnet er darin den Weg nach,
den die Partei, die liberale Regierung und auch der liberale Großherzog zwischen 1860 und
1870/71 gingen. 1860 konnten die Liberalen, indem sie die eben zwischen der großherzoglichen
Regierung und dem Vatikan ausgehandelte Konvention ablehnten, die konservative
Regierung stürzen und, vom Großherzog berufen, dann selber die Regierung übernehmen.
Das war ohne Zweifel ein Akt parlamentarischer Regierungsbildung. Bereits ein Jahrzehnt
später war das parlamentarische Pulver jedoch verschossen. Liberalismus, Regierung und
Großherzog waren zu „Erfüllungsgehilfen" Bismarcks und ihr Regierungssystem zu einem
„neopatriarchalischen" geworden. Inhalt von Galls Untersuchung ist es nun, die Gründe
für diesen parlamentarischen Krebsgang des badischen Liberalismus aufzudecken. Dabei
verflicht er mit großem Geschick und mit überzeugender, weit ins Detail gehender
und aus reichem Aktenmaterial gewonnener Sachkenntnis Fragen der Innen- und
Außenpolitik, speziell der deutschen Einheit, damit verknüpft der prekären Lage eines
deutschen Mittelstaates zwischen Preußen und Österreich, die Problematik, die die
Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche aufwarf, dann Fragen der liberalen
Honoratiorenpartei vor dem Hintergrund aufkommender populärer Massenbewegungen,
so zunächst von Seiten der katholischen Bevölkerung, schließlich personelle Implikationen
und damit ganz unmittelbar verbunden Differenzen im liberalen Lager selber,
etwa zwischen links und rechts, zwischen den Regierungschefs und der Fraktion,
und nicht zuletzt verwebt er in sein Tableau soziale Bindungen und Hintergründe,
so etwa, wenn er - und dies zum ersten Mal - das Aufkommen einer katholischen Massenbewegung
um 1864 mehr auf die die ländliche Bevölkerung benachteiligenden liberalen
Wirtschaftsgesetze als die liberale Kirchenpolitik zurückführt'. Josef Becker, um dies ein-
zuflechten, betont dann freilich wieder stärker die Herausforderung durch die liberale
Schul- und Kirchenpolitik. Wohl ein kleiner Streit um Kaisers Bart, denn in der katholischen
Bevölkerung, und dies nicht nur in ihrer Unterschicht, war der Affekt auf den bürgerlichen
Liberalismus, die liberal-aufgeklärte Bürokratie, „das graue Ungeheuer" (Josef
Görres) und die von beiden beherrschten zweiten Kammern, die „Verschwörungsassoziationen
gegen die Armen" (Franz von Baader, der damit auch das soziale Moment deutlich
genug anspricht), längst vorhanden. Diese Animosität hat dann 1848/49 namentlich in
den westlichen Landesteilen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt und sie mußte erneut
in dem Moment virulent werden, wo, wie in Baden 1860, der Liberalismus Regierungsmacht
wurde. Der auslösende Faktor mag dann wohl die oder jene Maßnahme gewesen
sein, wahrscheinlicher ist wohl, daß erst eine bestimmte Zeit verstreichen mußte, ehe man
sich katholischerseits der ganzen Tragweite der Veränderung bewußt wurde. Das Aufbegehren
gegen das neue Regiment sollte sich dann noch verstärken, als nach 1866 von

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