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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1976/0207
Besprechungen

Norddeutschland her die „tyrannische Herrschaft" des Liberalismus, nun auch noch in
Verbindung mit dem preußischen Militarismus zu einer gesamtdeutschen Erscheinung zu
werden drohte. Auf die weitere Entwicklung des Liberalismus sollte dieser Aufmarsch populärer
Kräfte freilich von weitreichender Folge sein. Denn unfähig, sich von einer Honoratiorenpartei
zu einer Volkspartei zu wandeln und damit auf einer ähnlich breiten und
populären Basis der Herausforderung zu begegnen, und auch nicht gewillt, den Anspruch,
das ganze Volk zu vertreten, aufzugeben, mußte er sich auf die die populären Kräfte
bändigende Hand von oben verlassen wie auch nach zusätzlicher Rückversicherung Ausschau
halten. Diese bot sich in Preußen und im Norddeutschen Bund an. Die Folge war,
daß der badische Liberalismus nahezu bedingungslos zu akzeptieren hatte, was von dort
an nationaler Einheit und innerer Verfassung des neuen Staates geboten wurde. Mit dieser
„Unterwerfung unter Bismarck" war zudem endgültig gescheitert, was den Liberalismus
angesichts der „Reaktion" in Preußen schon vorher in Verlegenheit gebracht und namentlich
zum Rücktritt des Freiherrn von Roggenbach als Außenminister geführt hatte, die innere
Reformpolitik als Muster für einen gesamtdeutschen Staat unter liberalen Vorzeichen.
Zusätzlich hatten Regierung und Honoratiorenliberalismus linksliberale dissentierende
Gruppen auf Linie zu halten, wozu sich als probates Mittel die Verschärfung des Kirchenkampfes
, womit naturgemäß prinzipiell antiklerikale Kräfte von links besonders anzusprechen
waren, erweisen sollte - Kulturkampf somit der Kitt, der die Partei zusammenhalten
und insbesondere dem linken, mehr demokratisch und parlamentarisch ausgerichteten
Flügel den Schneid abkaufen sollte, letztlich somit ein Instrument der Herrschaftssicherung
. All diese Faktoren sollten dazu beitragen, daß der parlamentarische Schwung erlahmte
, ja daß das Experiment einer Parlamentarisierung Badens nach Gall schon vor
1866 scheiterte und der Liberalismus sich zurückzog auf die „Regierung über den Parteien
", eine Position, die dann ein Mann wie der selbstherrliche Julius Jolly rigoros zu dem
ausbaute, was Gall als „neopatriarchalisches System" bezeichnet. Eine Frage allerdings
möchte man hier stellen. Wie soll man das Bekenntnis des Liberalismus oder gar des
Großherzogs zum Parlamentarismus von 1860 bewerten, wenn sie sich schon wenige Jahre
später wieder zurückzogen, wenn buchstäblich ein paar katholische Volksversammlungen
ausreichten, um Angst vor der eigenen Courage zu bekommen? Mir scheint, es ging 1860
gar nicht um eine Parlamentarisierung Badens, sondern um die „Machtübernahme" durch
den Liberalismus, die dann zufällig und allein von der gegebenen politischen Lage her
parlamentarisch erfolgte. Änderte sich die Lage, änderten sich auch die Mittel, nur der
Nenner blieb, die Macht. War sie parlamentarisch angesichts des Drucks von unten -
u. a. zunehmend auch von Seiten der Demokratie und der Sozialisten, die Gall erstaunlich
wenig berücksichtigt - nicht zu halten, dann eben anders. Und dies mag dann wohl auch
symptomatisch sein für weite Teile des Liberalismus der Reichsgründungszeit überhaupt,
für einen Liberalismus, der seine „Jugendjahre" (so etwa Treitschke) hinter sich gelassen,
damit viel idealistischen Schwung verloren hatte und nun unter Selbstkritik4 und Preisgabe
wesentlicher liberaler Programmpunkte seinen Frieden mit älteren Herrschaftsschichten
machte und sich mit diesen schließlich gegen neue, um politische Mitsprache ringende
Kräfte wandte. Insofern stellt Galls Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Geschichte
des deutschen Liberalismus überhaupt dar. Man möchte wünschen, daß ähnliche Regionalstudien
seine Ergebnisse bestätigen, in diesem oder jenem Punkt vielleicht auch ergänzen
oder revidieren 6.

Während nun Gall seiner Intention gemäß in erster Linie den Liberalismus, seine führenden
Köpfe wie Roggenbach, Lamey, Jolly, den Großherzog selber und die Regierungsseite
behandelte, die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche bzw. die kirchliche
Seite mitsamt dem Aufkommen einer katholisch-populären Bewegung aber nur insoweit,
als davon die Entwicklung von Liberalismus und Regierungssystem tangiert wurde, hat
sich Becker in seiner Arbeit, einer Habilitationsschrift gerade auch mit der Kirche und der
katholischen Bewegung befaßt. Material dazu holte er vor allem aus den Archiven des
Vatikans und aus dem Freiburger Diözesanarchiv. Die Thematik legte zudem nahe, den

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