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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1976/0208
Neues Schrifttum

Zeitraum über 1870 hinaus auszudehnen bis zum Höhepunkt des Kulturkampfes im Jahre
1876 und der im gleichen Jahr erfolgenden Entlassung Jollys als der zentralen Figur des
Kirchenkampfes auf staatlicher Seite. Sein Ergebnis, um dies vorwegzunehmen, formuliert
Becker noch schroffer als Gall: „Kirchen- und Kulturpolitik in josefinischem Geist und
bürokratischer Semikonstitutionalismus erwiesen sich so nur als zwei Seiten des gleichen
gesellschaftlich-politischen Integrationsmodells, das sich aus der spezifischen Fortentwicklung
der Staats- und Gesellschaftsverfassung des aufgeklärten Absolutismus im deutschen
19. Jahrhundert ergab" (S. 375). So habe Baden am Ende des 19. Jahrhunderts mehr einer
„Beamtenrepublik mit einem Großherzog an der Spitze" als einem „konstitutionellen Musterstaat
" geglichen. Becker betont damit nicht nur, daß der Kulturkampf als ein integraler
Teil der Gesamtentwicklung zu sehen ist, daß ihm ferner eine erhebliche zumindest
funktionale Rolle auf dem Weg zu dem von ihm herausgestellten Ergebnis zukommt, er führt
die ganze Entwicklung auch rigoros auf den Ausgangspunkt „aufgeklärter Absolutismus"
zurück, dem er damit eine enorm weiterwirkende Rolle in der deutschen Geschichte zuweist
, eine, wie ich meine, in der Tat einer weiteren Diskussion würdige These. Bindeglieder
wären dann etwa die Bürokratie gewesen, also der alte Geheimratsliberalismus, dann
eine Persönlichkeit wie der noch ganz in der Aufklärung wurzelnde Jolly, auch das liberale
Staatsverständnis, „der rechtsmonopolistische Etatismus", und schließlich - dies
möchte ich hinzufügen - doch auch jene liberalisierenden süddeutschen Fürsten, deren
Selbstverständnis tief im aufgeklärten Absolutismus wurzelte, nicht zuletzt aber auch -
auf katholischer Seite - der „liberale Katholizismus", der offensichtlich gleichfalls von
Spätaufklärung und Spätjosefinismus, dem „Wessenbergianismus", herkommt und nicht
etwa den deutschen Zweig jenes liberalen Katholizismus darstellt, der sich um 1830 in
Frankreich und Belgien ausbildete. Im übrigen wären ein paar klärende Worte speziell zu
dieser Erscheinung und gerade vor dem Hintergrund eines Landes, das so große liberalkatholische
Traditionen aufweist, aber auch in Gegenüberstellung zu freisinnigen Kräften
im ultramontanen Lager (Carl Bader etwa) erwünscht gewesen. Was etwa bedeutet Wessenbergianismus
um 1870? Und welche Rolle, die ja irgendwie meßbar sein müßte, hat
dieser liberale Katholizismus an der Seite des Liberalismus und des Staates nun wirklich
gespielt und wie hoch ist sein Anteil an der innerkirchlichen Front der ganzen Auseinandersetzung
einzuschätzen? * Einiges wird greifbar und dies weit über kirchliche oder gar
theologische Gegensätze hinaus, wenn man Figuren wie den aufgeklärten Katholiken Eduard
Fauler, den Oberbürgermeister von Freiburg, Fabrikanten, Abgeordneten und Freund
Jollys, einem Mann wie dem erzbischöflichen Registrator und Publizisten Josef Mathias
Hagele gegenüberstellt, der den Disput mit dem Liberalismus, der „Bourgeoisie", namentlich
auf dem sozialen Sektor bis zur Rezeption des marxistisch-antikapitalistischen Vokabulars
oder bis zur Annäherung an die Lasalleaner hinauftreibt, oder wenn man liest, daß
zur Zeit der erbittertsten Kulturkampfgefechte in den siebziger Jahren von 50 nationalliberalen
Abgeordneten der 2. Kammer 18 Altkatholiken bürgerlicher Herkunft waren, ein
Anteil, der in keinem Verhältnis zur Zahl der Altkatholiken im Lande steht.

Becker hat weiter auch die evangelische Kirche als ebenfalls von der liberalen Kirchenpolitik
betroffen in seine Betrachtung miteinbezogen. Auch dies begrüßenswert, da
bisher kaum geschehen. Wie auf katholischer Seite gab es auch da die beiden Richtungen
der „Positiven" und der liberalrationalistischen Protestanten um die bekannten Namen
Rothe, Schenkel, Bluntschli und auch Häusser. Das Verhalten beider Gruppen ist ambivalent
. Mißtrauischer und ablehnender das der konservativ-positiven Gruppe, im großen
ganzen aber, da dem badischen Staat traditionsgemäß viel enger verbunden als die Katholiken
, doch immer wieder zustimmend. Wesentlich positiver, nicht selten den Streit verschärfend
und als Vorreiter des Kirchenkampfes auf staatlicher Seite fungierend, die Linksprotestanten
, die schließlich durchweg Liberale waren. Hier auch höchst wirksam das ideologische
, vielfach ins Polemische abgleitende Moment - etwa geistige Freiheit gegen römische
Geistesknechtung - wie auch das nationale, dies unmittelbar greifbar im Protestantenverein
, der mehr oder weniger einen Filialverein des Nationalvereins darstellte. Spätestens

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