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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1981/0221
Besprechungen

nunmehrigen württembergischen Oberamtsstädte Esslingen und Heilbronn, da diese signifikant
seien für den Typus Oberamtsstadt, aber auch deutlich geprägt durch die beginnende Industrialisierung
. Die Autoren legen ihrer Arbeit das »Verständnis einer historisch-materialistischen >Struk-
turiertheit< von Geschichte« (S. 13) zugrunde und sind damit engagiert parteilich für Unterschichten
und Kleinbürger. Das ergibt ungewohnte Perspektiven, Darstellungsweisen und auch eine Sprache,
die den Zugang zu den Erkenntnissen nicht immer leicht machen.

Die Verfasser stellen zunächst den Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Württembergs
im Vormärz auf (Kaschuba), um dann die spezifischen Entwicklungen in Esslingen und
Heilbronn herauszuarbeiten (Kaschuba). Dies führt zur Darstellung des Wandels gesellschaftlicher
Strukturen: Entstehung des Proletariats, dessen Lebensbedingungen, Kleinbürgertum und dessen
Statusproblemen, Umformung der bürgerlichen Eliten (Lipp). Aus den Spannungen in dieser sich
neu formierenden Gesellschaft werden die »Konfliktfelder« abgeleitet, von der die 48er Revolution
im gesamten Verlauf, aber auch auf lokaler Ebene, bestimmt wurde (Lipp). Schließlich werden die
Formen präsentiert, in denen sich die Revolution äußerte: Volksversammlungen, Katzenmusiken,
Volksunruhen (Kaschuba). Die Autoren beenden ihre Darstellung mit dem Frühjahr 1848,
bezeichnen ihre Arbeit ausdrücklich als »unvollendet« (S. 13) und kündigen »Fortsetzung folgt« an
(S. 234).

Konstitutiv für diese Arbeit ist, daß in ihr weithin Bekanntes - mit Neuem angereichert - in
einen heteronomen Sinnzusammenhang gestellt wird. Das schließt die Notwendigkeit ein, in
marxistische Geschichtsphilosophie einzuführen, diese Denkweise am jeweils Konkreten jeweils
neu auszubreiten. Überhaupt konkret, dieser Lieblingsbegriff aller Marxisten (»Die wahre Theorie
muß innerhalb konkreter Zustände und an bestehenden Verhältnissen klargemacht werden« - Karl
Marx): Im ständigen Zwang zur Exposition des eigenen Geschichtsverständnisses, seiner Rechtfertigung
, überwuchert Theoriebildung und -absicherung je länger je mehr das Konkrete, durchdringt
es, macht es unwesentlich. Daran muß sich der Leser gewöhnen, aber auch daran, daß die Klassiker
des Marxismus die meistzitierte Literatur sind.

Die Bedeutung einer erkenntnisleitenden Wissenschaftstheorie ist daran zu messen, zu welchen
neuen Erkenntnissen sie verhilft bzw. welche Erkenntnisse durch sie verstellt werden. Letzteres soll
an drei Beispielen erläutert werden: So wird auf S. 125 festgestellt: »Die Industrialisierung und die
dadurch ausgelöste Bevölkerungsexplosion ...« So einfach waren die Zusammenhänge nun auch
wieder nicht. In der geschichtswissenschaftlichen Literatur wird auch das gerade Gegenteil
vertreten (was ebenfalls zu einfach ist). Hier handelt es sich vielmehr um einen im höchsten Maße
verschlungenen Vorgang, bei dem der eine Teil Voraussetzung und Folge des anderen zugleich ist.

Die Vereinsgründungen der Esslinger Arbeiterschaft kommentieren die Autoren auf S. 103:
»Soziale Interaktion und Kommunikation, die sich im Bereich der bäuerlichen und handwerklichen
Kleinproduktion über den einheitlichen Lebens- und Arbeitszusammenhang herstellten, sind nun
aus der Arbeitssphäre hinaus in die Freizeit verwiesen, müssen im Wirtshaus mit Konsum erkauft,
als >Ware< bezahlt werden«. Da haben die Verfasser zwar ihren Marx gut gelesen (entfremdete
Arbeit), sich aber ganz gewiß nicht historischer Daten versichert. Den so larmoyant angedeuteten
sinnstiftenden Lebens- und Arbeitszusammenhang hat es in dieser Form und in dieser Allgemeinheit
nie gegeben, ist romantisierende Verklärung einer späteren Zeit. Vielmehr muß man die Bildung
solcher Vereine als Teil der emanzipatorischen Bemühungen der Arbeiterschaft begreifen, ihres
Selbstbewußtseins, da sie damit ursprünglich adeÜge, nunmehr beginnend bürgerliche Geselligkeitsformen
beanspruchen. Man mag sich daran erinnern, daß erst in dieser Zeit Opern- und
Konzerthäuser entstehen, Musik also allgemein zugänglich wird.

Schließlich als letztes Beispiel: Auf S. 94 werden mit den Angaben über die Wohndichte in
Esslingen die katastrophalen Wohnverhältnisse beleuchtet - nur fehlt leider der Hinweis darauf, daß
die Landbevölkerung unter gleichen, wenn nicht schlimmeren Bedingungen leben mußte. Wohnungsmangel
ist zu der Zeit Folge des Bevölkerungswachstums, mangelnde Ressourcen machen es
dieser Gesellschaft unmöglich, auf diese Entwicklung flexibel zu reagieren.

Die Autoren entziehen - wie es scheint ungewollt - der Revolution von 1848 das Pathos, indem
sie das Gesamtereignis in lokale Ereignisse auflösen; diese mögen gesteuert sein oder Reflex auf
Ereignisse andernwärts oder zufällig: ein einheitlicher revolutionärer Wille ist nicht erkennbar. Die

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