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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1983/0221
Besprechungen

Im dritten, recht kurzen Kapitel, »Kritik« überschrieben, geht Schulze auf die wissenschaftlichen
Kontroversen über die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik ein und faßt noch einmal die
zentralen Punkte seiner Argumentation zusammen. »Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne
Verantwortliche haben das Experiment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb falsch
handelten. Auch auf dem Umweg über die Strukturanalyse gelangt man so zu dem Schluß, daß Weimar
nicht schicksalhaft oder bedingt durch anonyme Sachzwänge scheitern mußte - die Chance der Gruppen
wie der Einzelnen, sich für Weimar zu entscheiden und dem Gesetz der parlamentarischen Demokratie zu
gehorchen, nach dem man angetreten war, hat immer bestanden« (S. 425).

So sehr man der These Schuhes zustimmen kann, daß Weimar nicht schicksalhaft zugrundegehen
mußte, so unklar bleibt der erste und auch der letzte Teil der Aussage. Wer außer der Bevölkerung, den
verschiedenen Gruppen, den Parteien und den einzelnen Verantwortlichen soll denn ein politisches System
aufbauen, erhalten bzw. zerstören? Zweifelhaft ist auch, ob alle Gruppen der deutschen Gesellschaft und
die verschiedensten Persönlichkeiten 1918/19 angetreten waren mit dem Wunsch, den Gesetzen der
parlamentarischen Demokratie zu gehorchen. Für das Gegenteil liefert Hagen Schulze in seinem sehr flüssig
zu lesenden Buch genügend Beispiele.

Aber nicht nur über diesen Schlußabschnitt stolpert man. Es ist schon überraschend, wieviele Fehler,
Ungenauigkeiten und Widersprüche sich bei Schulze eingeschlichen haben. So schreibt er auf S. 131, daß
1933 »Heidegger dem gewalttätigsten Irrenden (!) die Universität Heidelberg zu Füßen legen« wird.
Heidegger wurde im Mai 1933 jedoch Rektor der Freiburger Universität. Auch die begeisterten Studenten,
»die Heidegger massenweise, zunehmend braun uniformiert zu Füßen sitzen«, können dies zumindest im
Wintersemester 1932/33, also kurz vor und während der Machtergreifung, nicht getan haben, denn
Heidegger hatte ein Freisemester.

Auch die Aussagen über das Wahlverhalten der Landarbeiter Ostelbiens, daß hier nämlich »sozialdemokratische
und kommunistische Propaganda ... ziemlich erfolglos« gewesen sei (S. 52), muß zumindest
relativiert werden. 1919 gelangen der SPD gerade in diesen Gebieten, Ostpreußen, Pommern, Frankfurt/
O. und Mecklenburg, riesige Gewinne, die jedoch nicht gehalten werden konnte, da die SPD den
Erwartungen nach einer Landreform nicht gerecht wurde. Aber auch bei den darauffolgenden Wahlen
gehörten diese vier Wahlkreise bei weitem nicht zu den schlechtesten der SPD. In Süd- und Westdeutschland
schnitten die Sozialdemokraten, teilweise auch die Kommunisten erheblich schlechter ab. Bei
durchschnittlich 20-40 Prozent der Stimmen für SPD und KPD scheint deren Propaganda nicht so erfolglos
gewesen zu sein wie Schulze behauptet.

Aber auch sonst nimmt es Schulze mit den Wahlergebnissen nicht so genau. Die vielbeschworene
Stabilität der Zentrumswählerschaft (S. 77) wurde schon in der Weimarer Republik von dem Zentrumsanhänger
J. Schauff in einer Untersuchung über das Wahlverhalten der Katholiken in Frage gestellt. So sank
der Anteil von Zentrum und BVP zwischen 1920 und 1933 immerhin von 18,4 auf 13,9 Prozent. Damit
waren allerdings die beiden katholischen Parteien immer noch die mit Abstand stabilsten bürgerlichen
Parteien. Daß dagegen »an der Volksfrömmigkeit der katholisch gebliebenen Landschaften Deutschlands
... Hitlers Appell fast spurlos« abglitt (S. 343), ist eine hebgewordene Legende. Am 5. März 1933 erhielt die
NSDAP in den katholischen Kerngebieten Deutschlands, im Rheinland, an der Mosel, in Bayern und
Oberschlesien zwischen 30 und 43 Prozent der Stimmen. In Oberschlesien und Bayern übertraf sie damit
sogar Zentrum bzw. BVP. Aber auch die Wahlergebnisse von Sigmaringen und Hechingen zeugen vor
allem 1933 nicht gerade von einer Immunisierung der Katholiken gegenüber dem Nationalsozialismus.

Ebenso falsch ist, daß in dem Entwurf eines >Freiheitsgesetzes< auch dem Reichspräsidenten mit
Zuchthaus gedroht würde, falls er den Young-Plan unterschriebe (S. 310). Ebenso ist es Schulze entgangen,
daß Württemberg schon seit 1924 nicht mehr von einer schwarz-rot-goldenen Koalition regiert wurde,
sondern von einer schwarz-blauen, die ab 1930 durch die liberalen Parteien ergänzt wurden (S. 423).

Aber auch diverse Widersprüche häufen sich. Auf S. 365 spricht der Autor von der rechnerischen
Mehrheit von SPD und DVP (muß wohl SPD bis DVP heißen) bei der Reichspräsidentenwahl 1932. Zwei
Seiten weiter sind die 49,6 Prozent für Hindenburg keine Aussage über die Anhängerschaft dieser Parteien,
sondern über den Hindenburgmythos.

Der zeitliche Beginn des Buches mit dem Jahr 1917 wird damit begründet, daß die Bildung des
Interfraktionellen Ausschusses die Geburtsstunde der Weimarer Republik war. Schulze rühmt den Mut der
parlamentarischen Kräfte zur eigenen Verantwortung und die Kraft zum organisierten Handeln (S. 143).
Drei Seiten weiter lesen wir dagegen, daß dieselben >mutigen und kraftvollem Politiker in endlosen
Geschäftsordnungsdebatten versanken, zweitrangige taktische Differenzen hatten und über den Vorsitz im
Interfraktionellen Ausschuß stritten.

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