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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0016
Herben Rädle

daß auch wir selbst bei unserem Streben nach Tugend für den Fall, daß wir dabei keinen Ruhm
ernten, dieses geringschätzen, wenn er uns aber als Begleiter der Tugend dazugegeben wird,
tragen können ohne überheblich zu werden. Denn nach Ruhm zu trachten ohne entsprechende
Tugend, dazu wird sich nur ein Tor entschließen. Und doch sehen wir, daß gar viele, nur weil
sie berühmte Taten gelesen haben, die Nase recht hoch tragen und sich viel anmaßen, ähnlich
wie jene Tragödienschauspieler, die das Gehabe der erlauchten Personen, die sie gespielt haben,
auch noch nach Ablegung des Bühnengewandes nachahmen9. Es gibt auch welche, und sie sind
recht zahlreich, die nur Unerhörtes und Wunderbares reizt - Menschen von plebeischer
Gesinnung - die in ihrer ahnungslosen Art sehr oft den Purpur höher einschätzen als den Mann,
den Zierat höher als das Werk selbst. So seltsame Wirkung übt die Geschichte in den Gemütern
der Leser aus.

Obwohl es schließlich in erster Linie Ziel der Geschichtsschreibung ist, die Menschen aus
ihrer Sorglosigkeit aufzurütteln und gegen Gefahren zu wappnen; und obwohl die Kraft der
Exempla - die den allergrößten Einfluß auf den Menschen haben - gerade darauf abzielt,
geschieht es, daß - infolge der Sorglosigkeit der Menschen, die glauben, fremde Gefahren hätten
mit ihnen selbst nichts zu tun - die denkwürdigsten Ereignisse mit taubem und sozusagen
zugefallenem Ohr gehört und gelesen werden. Schließlich gibt es auch Leute, die - man sollte es
nicht glauben - gegen das Grundprinzip ernsthafter Lektüre verstoßen und behaupten,
Geschichte sollte geschrieben werden nicht wie sie geschehen ist, sondern wie sie hätte
geschehen sollen. Teils aufgrund jener Sorglosigkeit, teils aufgrund eines Katzenjammers
infolge unvernünftiger und planloser Lektüre geschieht es also, daß man sich, gleichsam wie bei
einer falschen Mischung der Körpersäfte, eine Kachexie der Urteilskraft zuzieht, eine Dyskra-
sie10 der Lebenseinstellung (welche ja in hohem Maße geradlinig sein sollte): kurz, einen
unsicheren und gefährlichen Lebensplan. Und wie solchen, deren Körpersäfte nicht die richtige
Mischung haben, ein Nahrungsmittel keinen Vorteil bringt, so haben wir von unserer Lektüre
dann keinen Gewinn.

IV. Du siehst, glaube ich, in welcher Weise sich die Methoden, Geschichte zu lesen und sein
eigenes Leben zu betrachten, ziemlich nahe sind. Dabei gibt es allerdings eine erste Schwierigkeit
, ich meine die Verkehrtheit unseres Urteils. Sie bringt es mit sich, daß wir uns nicht dahin
leiten lassen, wohin uns die Kraft des Exempla von sich aus mächtig lenken müßte, sondern
dorthin, wozu uns Lust und Neigung am meisten treiben. Es gibt aber noch eine zweite ebenso
große Schwierigkeit: Die Schriftsteller »servieren« uns die geschichtlichen Tatsachen nicht nur
in der Weise, daß sie für sich Gunst erhaschen, sondern sie folgen dabei auch ihrem eigenen
Geschmack. Wie gewisse Wirte loben sie manches von sich aus überschwenglich, indem sie ihr
eigenes Urteil hineinmischen; alles, was ihnen selbst gut scheint - so meinen sie - müßte auch

9 Dem Ruhm großer Taten dient die Geschichtschreibung schon seit Herodot, dem pater historiae (Her.
Hist. 1,1). Nach einer - von griechischer Philosophie beeinflußten - Äußerung Ciceros ist der Ruhm
umbra virtutis, der Schatten der Tugend. In der christlichen Morallehre gilt Ruhmesbegierde als sündhaft:
vana gloria erscheint seit der Patristik oft unter den vitiaprincipalia. Im Unterschied zu vielen Renaissance-
Humanisten lehnt Grynaeus die fulgens gloriae species, das schimmernde Bild des Ruhmes ab. Für die
Römer war der Ruhm geradezu der oberste Wert. Vgl. U. Knoche, Der römische Ruhmesgedanke. In:
Römische Wertbegriffe. Hg. von H. Oppermann. Darmstadt 1967. S. 420-445.

10 Um größerer Anschaulichkeit willen fügt Grynaeus in seine Gedankenführung an mehreren Stellen
Vergleiche aus dem körperlich-vitalen Bereich ein (Kochkunst, Medizin). So erscheint ihm Lektüre als
geistige Nahrung. Die im Text gebrauchten Ausdrücke Kachexie und Dyskrasie - das letztere bedeutet
soviel wie »schlechte Mischung« - stammen aus der antiken, auf Galen zurückgehenden Humoralpatholo-
gie, wonach Krankheit entsteht, wenn die Säfte des Körpers nicht im richtigen Verhältnis gemischt sind. Die
Werke Galens genossen bis ins 16. Jahrhundert unangefochtene Autorität. Erst Paracelsus, der im übrigen
1527/28 in Basel lehrte, ging im Ansatz neue Wege, was ihm dort heftige Angriffe von seiten der Universität
und der Ärzteschaft einbrachte. Wirklich abgelöst wurde die Humoralmedizin erst um 1850 durch die
Zellularpathologie Virchows.

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