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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0035
Die Junginger Audienzprotokolle von 1600-1625

Auch lange Ehejahre konnten die Gatten allmählich einander entfremden. So kündigt Alt
Bastian Speidel, der frühere Beck, 1625 an, er wolle sich beim Sohn Bastian, seine Frau aber
beim Sohn Martin leibdingen, ... jedoch mechten, so räumen sie ein, einander ehelich
beywohnen. Der Graf gestattet das Auseinanderziehen der beiden widerwillig: Fiat, wiewohl
man lieber sehe, das sie bey einem Kind die Kost betten, und sollen sich erklären, wo sie das
Ehebetb haben wollen. Wie die Herrschaft auf der einen Seite das Tabu des vorehelichen
Verkehrs zu hüten versucht, so kontrolliert sie auf der anderen die ehelichen Pflichten auch
dann noch, wenn die Ehegatten nach 30 Jahren müde geworden waren und getrennt leben
wollten.

Die Ehe Bastian Speidels dürfte mit mehr als 30 Jahren eine ungewöhnlich lange Dauer
gehabt haben. Besinnen wir uns nämlich darauf, daß an den 54 Eheschlüssen zwischen 1600 und
1613 siebzehnmal Witwen bzw. Witwer beteiligt waren, dann drängt sich die Frage nach der
durchschnittlichen Ehedauer als einem vielschichtigen sozialen Problem auf. Die Audienzprotokolle
lassen bei den relativ wenigen Daten keine absolute Antwort zu, aber einige Beispiele
sind geeignet, die unterschiedlichen Eheschicksale zu illustrieren. Catharina Beckin etwa war
seit 1604 mit dem körperbehinderten Hans Dierhaimer verheiratet; nach dessen Tod 1611
heiratet sie Hans Hewis, der - selbst nur drei Jahre verheiratet - ebenfalls gerade Witwer
geworden war. Das Ende dieser Verbindung haben wir eben geschildert. Die Baderin
Margarethe Keßlerin war elf Jahre mit Hans Kadis verheiratet. 1611 heiratet sie Jerg Grösser,
der aber schon ein Jahr später nichts mehr von ihr wissen will. Jacob Speidel stirbt nach nur drei
Ehejahren 161L Ein besonders tragischer Fall ist der der Barbara Dachtmännin. Ihr Mann Gall
Flad wurde an der Fastnacht 1610 erschlagen; sie heiratet noch im selben Jahr Hans Dietmann,
der aber schon 1612 stirbt, so daß sie eine dritte Ehe mit Hans Flad eingeht. Jede neue Ehe
brachte für die Witwer und Witwen neue Lebensbedingungen mit sich, die Gewöhnung an
einen anderen Partner mit seiner Verwandtschaft, möglicherweise eine veränderte wirtschaftliche
Basis und damit wechselnde soziale Stellung. In der Familie und im Dorf gab es Probleme
mit den Kindern aus den jeweils ersten Ehen.

Wir haben gesehen, daß die Herrschaft ein Interesse daran hatte, daß die Untertanen ihre
eheliche Pflicht erfüllten. Diese Überwachung scheint sich zwar im Fall der betagten Eheleute
Bastian Speidel und Frau verselbständigt zu haben, denn sie hatten ihrer Pflicht - die Kinder
waren erwachsen - längst Genüge getan, aber ansonsten ist die »Menschenproduktion«14 ein
selbstverständlicher Gegenstand feudaler Politik. Wie hoch allerdings die Fruchtbarkeit der
Junginger in unserem Untersuchungszeitraum war, kann aus den Audienzprotokollen leider
nur schlecht rekonstruiert werden - sie können eben fehlende Kirchenbücher nicht in jeder
Hinsicht ersetzen. Natürlich waren Frauen in zwei und drei Ehen oft insgesamt 30 Jahre
verheiratet und mögen nicht selten bis zu 15 Kinder geboren haben. In den Protokollen treten
aber in der Regel nur die Kinder auf, die groß werden. Wenn ich alle sicheren und erschlossenen
Daten über die Zahl der lebenden Kinder in einzelnen Familien sammle, so komme ich auf einen
Schnitt von fast genau drei - die tatsächliche Zahl lebender Kinder mag wegen dieses unsicheren
Verfahrens doch bei etwas über drei gelegen haben. Wir hätten also mit Familiengrößen von
durchschnittlich fünf Personen zu rechnen. Da jedoch bei Großbauern meist noch ein
Altenteiler auf dem Hof lebte, zudem Knecht und Magd, und da bei den Gewerbetreibenden
Bedienstete, bei den Handwerkern oft Lehrlinge im Haus waren, wird die Zahl der unter einem
Dach lebenden Personen in großen Haushalten oft bei 7-9 gelegen haben15.

14 So der Haupttitel einer »allgemeinen Bevölkerungslehre der Neuzeit« von G. Heinsohn, R. Knieper
u. O. Steiger. Frankfurt 1979.

15 Kuczynski (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 241 ff.

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