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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0238
Neues Schrifttum

»Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.« Faschismuserfahrung im Ruhrgebiet. Hrsg.
von Lutz Niethammer. Berlin, Bonn:DietzNachf. 1983. 327 S. (Lebensgeschichte und Sozialkultur im
Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Band 1).

Die »Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet«, die eine Essener Arbeitsgruppe um den Sozialhistoriker
Lutz Niethammer im vorliegenden Band vorstellt, sind sowohl für die zeitgeschichtliche Forschung im
allgemeinen als auch für die regionalhistorische Arbeit im besonderen von großer Bedeutung. Zum einen
tragen die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe neues Material zur Diskussion über Nationalsozialismus
und Nachkriegszeit bei, zum anderen veranschaulicht dieses Pionierprojekt Mündlicher Geschichtsforschung
(»Oral History«) die Probleme und Perspektiven der von ihm in rund 200 lebensgeschichtlichen
Interviews angewandten neuen Methode. Die Arbeitsgruppe hat den Versuch unternommen, »die
politische Dimension... in den Zusammenhang der Alltagswelt« zu stellen und sie »nicht nur in Bezug auf
ihren Inhalt, sondern auch auf ihre Bedeutung und Wahrnehmung zu thematisieren« (S. 12). Unter dem
Stichwon »Volkskontinuität als verdrängte Vorgeschichte« der Bundesrepublik (S. 8) entwickeln die
Autoren die These einer »geringe(n) Tiefenwirkung politischer Orientierungen« in der NS-Zeit und
danach. Gerade in der Nachkriegszeit sei »die Distanz zwischen Lebenswelt und Politik« erhalten geblieben
(S. 13). Die Erfahrungen der NS-Zeit und des Krieges hätten zu einem Stau neuer Qualifikationen
und Erwartungen, zu einer Sehnsucht nach Ruhe und Frieden und zum individuellen Durchschlagen
als Lebensmaxime geführt. Politisch sei dies mit einer relativen Offenheit gegenüber neuen, den
Alltagsbedürfnissen entsprechenden Orientierungen und mit einer »Kommunikationsangst bei den
Regierenden und sogar in den Organisationsführungen der Arbeiterorganisationen« (S. 9) einher
gegangen. Wirtschaftswachstum, Wohlstand und sozialstaatliche Absicherung seien dann die Integrationsmechanismen
für eine ideologisch unsichere Basis des demokratisch-parlamentarischen Staates
gewesen.

Perspektiven und Probleme der Mündlichen Geschichtsforschung, mit der diese Thesen gewonnen
wurden, lassen sich anhand von drei Beiträgen des Bandes veranschaulichen:

Auf die »Suche nach Nachbarschaften, die nicht zertrümmert wurden«, macht sich Bernd Parisius in
seinem Beitrag über »Mythos und Erfahrung der Nachbarschaft« (S. 297-325). Diese Suche erbringt
allerdings nur wenige Wegweiser für die weitere Forschung. Zahlreiche, meist nur kurz zitierte Interviewpassagen
, das Hin-und-Herspringen zwischen dem detaillierten Bericht über einzelne Lebensgeschichten
und der allgemeinen Rede von »den Interviewpartnern« (S. 308) tragen wenig zur Beantwortung der
eingangs gestellten Frage nach der »Gegenwelt der Arbeiter« (S. 298) und den Ursachen sozialdemokratischer
Hegemonie im Ruhrgebiet bei. Der Artikel bringt durchaus Anstöße, zerstört vorgängige Ansichten.
Zur Entwicklung von Thesen für die weitere Diskussion wären allerdings präzisere Angaben über Art und
Anzahl der geführten Interviews sowie weitere Daten zur sozialstrukturellen und politischen Verortung der
untersuchten Wohnsiedlungen notwendig gewesen. Besser gelingt dies in dem Beitrag von Ulrich Herbert
über »>Die guten und die schlechten Zeiten<. Überlegungen zur diachronen Analyse lebensgeschichtlicher
Interviews« (S. 67-96).

Der Autor gibt zunächst genaue Angaben über Art und Reichweite seiner Interviews und stellt dann
fünf Lebensgeschichten vor. Eine intensive Auswertung und Interpretation führt zu interessanten Thesen
(beispielsweise zu den »guten« dreißiger Jahren als lebensgeschichtlichem Leitbild, das für die Nachkriegszeit
eine große Rolle spielte) und Vorschlägen für lebensgeschichtliche Zeiteinteilungen, die in künftigen
Forschungsarbeiten weiter diskutiert werden können. Der Beitrag von Alexander v. Pinto »>Ich bin mit
allen gut ausgekommene Oder: war die Ruhrarbeiterschaft vor 1933 in politische Lager gespalten?«
(S. 31-65) verknüpft von vornherein politische und sozial-wirtschaftliche Daten aus der Sekundärliteratur
mit eigenen Befragungsergebnissen, die er zumeist in längeren Passagen vorstellt. Unklar sind allerdings die
Kriterien, nach denen der Autor Interviewpartner stellvertretend für »die Ruhrarbeiterschaft« zu Wort
kommen läßt. Trotzdem gelingt ihm überzeugend der Nachweis, daß sich die Forschung weder mit einer
Perspektive »von oben« (Statistiken, Wahlergebnisse, amtliche Quellen) begnügen darf, noch die historische
Entwicklung allein »von unten« betrachten sollte. Strukturen und Erfahrungen bestimmen sowohl den
Alltag als auch die Politik.

Aus dieser exemplarischen Kritik ergibt sich, daß die Mündliche Geschichtsforschung eine unverzichtbare
Ergänzung der traditionellen Methoden darstellt, daß aber eine Methodenvielfalt anzustreben ist, die
methodische Schwerpunktsetzung allerdings nicht ausschließt. Kollektive Mobilisierungs- und Handlungszusammenhänge
, die - wie Niethammer selbst einräumt - bei der Mündlichen Geschichtsforschung in
den Hintergrund treten (S. 14), müssen weiter vor allem mit schriftlichem Material untersucht werden -

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