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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1985/0169
Die Juden in Hechingen als religiöse Gemeinde

beging die zur Deportation vorgesehene verwitwete Marie Levi, geb. Marx, Selbstmord. Am
darauffolgenden Tag wurde das eingeliefert Gepäck mit Lastwagen von Hechingen zum
Bahnhof Haigerloch befördert. Am Morgen des 27. November versammelten sich die elf für die
Deportation Bestimmten um 9 Uhr im früheren Gemeindehaus. Sie wurden visitiert, das
Handgepäck nach Waffen, Sprengstoff, Munition, Gift, Devisen, Schmuck usw. durchsucht. Es
gab nur kleinere Beanstandungen1029. Anschließend ging es vom ehemaligen israelitischen
Gemeindehaus unter Bewachung die Rabengasse und Staig hinunter bis zum Landesbahnhof,
wo die vorgesehenen Personenwagen warteten. Eine Hechinger Augenzeugin schreibt: Als wir
Christen hörten, daß Juden abgeführt wurden, verschlossen wir alle die Fensterladen, damit die
Armen niemanden sehen sollten. Durch die Ladenlatten sahen wir ungefähr 20 Menschen, meist
Frauen, die die Straße hinuntergeführt wurden. Ich werde es nie vergessen, wie der junge
Hochheimer [vermutlich Otto Hofheimer], als sie an unserem Haus vorbeikamen, (vorne u.
hinter dem Zug ein Soldat in Rüstung), mit der einen Hand die Tränen abwischte, mit der
anderen Hand sein Töchterchen führte, das eine Puppe im Arm trug. Manche hatten Netze mit
Brötchen. - Man hätte aufschreien können vor weh, beim Anblick dieser armen weinenden
Menschen. -... - Wohin die Armen gebracht wurden, weiß ich nicht. Dies waren ja die Ärmsten,
die anderen waren ja schon gleich nach Amerika ausgewandert1™.

Der Zug fuhr um 11.21 Uhr in Richtung Haigerloch ab. Dort stiegen die Haigerlocher Juden
zu, die ebenfalls deportiert werden sollten. Der Transport kam um 16.26 Uhr in Stuttgart
Hauptbahnhof an und wurde zum Nordbahnhof weitergeleitet. Von dort brachte man die
Deportierten in das Sammellager auf dem Killesberg. In acht Reihen zu je 125 Personen
übernachteten die Schicksalsgefährten dort bis zur Verfrachtung in den Deportationszug am
1. Dezember 1941.-Nach dem Auszug der Juden aus Hechingen am 27.11.1941 versiegelte ein
Polizeibeamter unter der Aufsicht eines städtischen Beamten die Wohnungen der Deportierten
in amtlichem Auftrag1031.

Am 1. Dezember 1941 verließ der Deportationszug Stuttgart in Richtung Riga. Am
4. Dezember kamen die deportierten Juden auf dem Bahnhof Skirotawa in Riga an. Dort
wurden sie von SS-Leuten in Empfang genommen, eines Teils ihres Gepäcks beraubt und auch
geschlagen. Die meisten der Zwangsverschleppten kamen in das 2-3 km entfernte Lager
Jungfernhof und wurden auf die schadhaften Scheunen und Ställe verteilt. Die Männer unter
den Neuankömmlingen erhielten ihre Unterkunft in einer großen Wellblechscheune, zu der
Regen, Wind und Schnee wegen des fehlenden Daches und der schadhaften Tore fast
ungehinderten Zugang hatten. Überlebende berichteten, daß in dieser »Todesbaracke« mitunter
eine Kälte von minus 30-40° Celsius geherrscht habe. Viele der Insassen erfroren in dem
besonders strengen Winter 1941/42 während der Nächte. Ein besonderes Arbeitskommando
mußte täglich die steifgefrorenen Toten aus den Schlafkojen herausziehen und abseits der
Scheunen aufstapeln. Die SS-Wachmannschaften leisteten sich zahlreiche Übergriffe. Wegen
der geringsten Vergehen wurden Gefangene erschossen. Kranke erlitten das gleiche Schicksal.
Die wenigen Überlebenden erinnern sich mit Grauen an die Massenerschießung am 26. März
1942. Die Kinder unter 14 Jahren, alle über Fünfzigjährigen, die Arbeitsunfähigen und Kranken
wurden - ob sie gehfähig waren oder nicht - zu den bereitstehenden Autobussen getrieben oder
geschleppt und in »Bikernieki« (Birkenwäldchen), den im Hochwald bei Riga gelegenen
Hinrichtungsstätten des Rigaer Gettos, erschossen (»Aktion Dünamünder Konservenfabrik«).

1029 Vgl. Protokoll des Bürgermeisteramts Hechingen vom 27. November 1941. Das Protokoll (zitiert
nach Paul Sauer, Dokumente, S. 301 f.) ist vollständig abgedruckt in Otto Werner, Leon Schmalzbach,
S.189f. (Dokument XX a.)

1030 Brief der ehemaligen Lehrerin Maria Beck vom 16.12.1981 an Karl Hin. Lagerort: Privat.

1031 Vgl. Protokoll des Bürgermeisteramts Hechingen vom 27. November 1941. Vollständig abgedruckt
in Otto Werner, Leon Schmalzbach, S. 190f., Dokument XXb (zitiert nach Paul Sauer, Dokumente,
S.202f.).

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