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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1985/0207
Die Inschriften der Kaulla-Grabdenkmäler

...der Tag Jod Sajin Tevet nach kleiner Zählung: Jod ist der zehnte Buchstabe des
hebräischen Alphabets, Sajin der siebte, und die »Positionszahl« dieser Buchstaben im Alphabet
ist gleichzeitig ihr Zahlenwert, das bedeutet: 10 + 7 = 17, folglich ist die Rede vom 17. Tevet.
Das Normale wäre gewesen, nur die Buchstaben Jod und Sajin mit einem Pünktchen jeweils
darüber zu benutzen, um die Zahl 17 anzuzeigen, hier aber werden die Namen der beiden
Buchstaben voll ausgeschrieben QWD/SJN). Warum diese Künstelei? Ganz einfach: weil der
Zahlenwert der ganzen Zeile - ausgenommen das LePdQ am Schluß, das auch nicht überpunktet
ist - fein säuberlich addiert die Summe 572 ergibt, wozu ich durch den Hinweis LePdQ
gewarnt noch flugs 5000 hinzuzähle, um mit der Endsumme 5572 das Todesjahr unseres Akiba
Auerbach zu erhalten! Daß alle Buchstaben dieser Zeile in die Addition einbezogen werden
müssen, erkenne ich daran, daß sie alle mit einem Pünktchen darüber gekennzeichnet sind, das
LePdQ hingegen hat über dem Pe ein kleines V, und daran sehe ich, daß hier eine Abkürzung
und kein Chronogramm vorliegt. Chronogramme sind bei Juden ehemals auf Grabsteinen, bei
Einweihungsinschriften sowie auf den Titelseiten von Druckwerken ungemein im Schwange
gewesen. Schmalzbach und Hamburger berichten in ihrer Gräberliste (S. XIV), daß sich über
dem Eingang des Hechinger Beth-Midrasch ein Stein befunden habe, auf dem habe gestanden
u-va-gafän sch'loschah ssarigim (= »und der Weinstock hatte drei Reben«, der Anfang von
Gn 40,10); hierbei sei das Wort ssarigim gepunktet gewesen (entgegen dem Bibeltext am Ende
mit Jod+Mem Ssofit geschrieben) gefolgt von einem »gekrönten« LePdQ. Die Addition
der punktierten Buchstaben ergibt (5)563: das Gründungsjahr des Beth-Midrasch ist folglich
1803! Warum ist ausgerechnet der Anfang dieses Bibelverses ausgesucht worden? Das ergibt
sich aus dem Rest des Verses, der in der Lutherschen Fassung so lautet: »..., und er grünte,
wuchs und blühte, und seine Trauben wurden reif.« So wie der Weinstock im Traum, den
der gerechte Josef dem Mundschenken des Pharao deutet, blüht und Frucht bringt, so auch
möge die neubegründete Institution blühen und Früchte tragen! Dieses Verfahren der
»angeschnittenen« Verse ist schon in den Midraschim und im Talmud ein ganz normales: es ist
klar, daß es nur funktioniert, wenn man voraussetzt, daß die meisten Leser den Text der
hebräischen Bibel auswendig können, und ich weiß aus eigener Erfahrung, daß auch heute noch
manche orthodoxe Juden dazu in der Lage sind (und z.B. den Vorbeter, der am Sabbat aus der
Tora-Rolle vorträgt und sich verliest, aus dem Gedächtnis lauthals korrigieren!).

Dem 17. Tevet 5572 entspricht der 2. Januar 1812. Schnee gibt nirgendwo ein Todesdatum
an, und auch auf dem Stein hat man auf die Angabe des bürgerlichen Datums verzichtet, die man
unter dem in lateinischen Buchstaben eingemeißelten Namen des Verstorbenen auf der
Vorderseite der Stele hätte erwarten dürfen. Was den Namen nun selbst anbetrifft, so hat sich da
ein wahrhaft kurioser Irrtum eingeschlichen: statt des zu erwartenden Akiba taucht in
Lateinschrift tatsächlich Jakob auf! Der Rest Sohn David Salman Kauila ist korrekt oder steht
zumindest nicht im Widerspruch zum hebräischen Text, wenn man einmal davon absieht, daß
als Akibas »Hausname« nicht Kauila, sondern Auerbach erscheint; Salman ist übrigens die
deutschjüdische Form von Schlomo = Salomon.

3.3.3. Das Gedicht auf der Vorderseite besteht aus zwei Vierzeilern mit jeweils dem
Reimschema abab. In zwei Fällen liegen hier »unsaubere« Reime vor: nezach, auf der ersten
Silbe betont, steht im Reim mit haldkh, das die zweite Silbe betont (1. Strophe: Zeilen 1 und 3),
und auf pa'amdjim reimt sich chdjjim, das freilich chajjim betont werden sollte (2. Strophe:
Zeilen 2 und 4). Solche Ungenauigkeiten kommen in den Gedichten für Chaile und Jakob
Kaulla nicht vor, sondern Reim und Metrum sind sauber ausgefeilt. Allerdings darf man nicht
vergessen, daß in der damals in Mitteleuropa üblichen Aussprache des Hebräischen keine
endbetonten mehrsilbigen Wörter mehr vorkamen, man sprach ja tatsächlich hölakh (sie!) und
chdjjim, so wie dies noch heutzutage bei der synagogalen Tora-Vorlesung von Orthodoxen des
aschkenasischen Ritus vielfach gehandhabt wird. Dann liegen natürlich im Gedicht für Akiba
keine unsauberen Reime mehr vor (wohl aber im Fall von nezach auf holakh ein schlechter), und

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