Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1985/0263
Funde aus der Hechinger »Genisa«

Konkrete Beanstandungen des wackeren Kyck waren u.a. diese: Maria werde »ischa«
(= Frau) genannt, es müsse doch »betula« (=Jungfrau) stehen; an Allerheiligen stehe da im
Hebräischen kol ha-qedeschi(m) statt kol ha-qedoschi(m). Dies war wahrscheinlich ein bloßer
Druckfehler, aber da nun »qedescha« tatsächlich »Hure« bedeutet, sah der eifrige Zensor hier
eine böse Verunglimpfung des Christentums, und daß auch »Aller Seelen« verdruckt als »Allur
Sulen« bzw. »Allor Solen« erschien, wollte dem Braven gar nicht schmecken! Und so geht es
weiter. Allerdings darf man erstens nicht übersehen, daß in den beiden letzten Fällen die
Buchstaben Waw und Jod, die einander recht ähnlich sind, schlicht und einfach verwechselt
wurden, und zweitens darf man davon ausgehen, daß Juden damals in Deutschland nach
jahrhundertelangen Verfolgungen und Schikanen übervorsichtig waren und sich keinerlei
Angriffe gegen das Christentum erlaubten. Zudem verwendeten die Drucker auf die Herstellung
solcher Kalender, wie weiter oben ausgeführt, keine übertriebene Sorgfalt. Um so mehr
darf man sich über die krankhafte Angst des Zensors wundern, als könnten ein paar arme Juden
das christliche Abendland zugrunde richten. Wie dem auch sei: in unserem 65 Jahre später
erschienenen Taschenkalender, der sich in der Aufmachung von besagtem Wandkalender kaum
unterscheidet, sind die Beanstandungen, die der Zensor mit grüner »Dinte« markiert hatte,
ausnahmslos getilgt. Statt »ischa« steht durchgehend »Marie« (z.B. »Marie Himmelfahrt«), bei
Allerheiligen erscheint die Abkürzung »K'HQ« (= kol ha-qedoschim) und für »Allur Sulen«
heißt es nun hebräisch »kol ha-neschamot«24.

SCHLUSSBETRACHTUNG

4. Zum Abschluß sei uns eine kritische Bemerkung zum Wert unserer Funde gestattet. Wie
immer lassen sich die Dinge von zwei Seiten sehen: materiell und ideell. Materiell - das sei
unumwunden eingestanden - sind die aufgefundenen Sachen überhaupt nichts wert, und aus
diesem Grund haben sich ja seinerzeit bereits die Vorbesitzer davon getrennt. Tefillin,
Mesusen, Gebetsschals, sämtliche Gebetbücher und einen großen Teil der Erbauungsliteratur -
ein anderer Teil liegt in kritischen, wissenschaftlichen Ausgaben vor - kann man auch heute
noch mühelos über jede jüdische Buchhandlung beziehen, von Bibelausgaben ganz zu
schweigen. Talmudfolianten sind in Mea Scbearim (Jerusalem) an fast jeder Straßenecke
wohlfeil zu erwerben, und zwar in ganzen, druckfrischen Exemplaren. Kaum etwas war an
religiöser Literatur und nichts, aber auch gar nichts an rituellen Objekten vorhanden, was für
orthodoxe Juden nicht auch noch heute gedruckt bzw. hergestellt würde. Eine Ausnahme
freilich stellen die kleinen Taschenkalender dar - nicht allein deshalb, weil natürlich Kalender
aus dem 18. Jahrhundert nicht mehr gedruckt werden, sondern weil sie möglicherweise, wie es
bis jetzt aussieht, auch in großen Bibliotheken nicht vorhanden sind. Was die ideelle Seite
anbetrifft, so läßt sich zweierlei sagen: (1) Nachdem von der einst bedeutenden jüdischen
Gemeinde Hechingens außer einigen Hunderten von Grabsteinen, dem ehemaligen Gemeindehaus
und einem heruntergekommenen Synagogengebäude, das gerade mit viel Enthusiasmus
seitens der rührigen Synagogen-Initiative restauriert wird, nichts geblieben ist, darf man für
jedes weitere materielle Zeugnis dankbar sein, und sei es noch so jämmerlich. Und schließlich
(2): Die Vielfalt der literarischen Werke, von denen uns Reste vorgelegen haben, stellt durchaus
einen repräsentativen Querschnitt durch das volkstümliche religiöse Schrifttum der aschkenasi-
schen Judenheit dar. Etwas überspitzt könnte man dies sogar folgendermaßen ausdrücken:
Trotz der relativ geringen Menge an aufgefundenem Material liest sich unsere Auflistung
(2.5.-2.9) wie der Abriß einer jiddischen Literaturgeschichte! In der Hechinger Gemeinde war
alles vorhanden, was man bei einer großen, blühenden Judenschaft vor 150 bis 200 Jahren in

24 M. Weinberg : Der Sulzbacher Wandkalender für das Schöpfungsjahr 5483 (1722/23). In: Jahrbuch der
Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 17 (1926), S. 89-94.

233


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1985/0263