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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1985/0326
Neues Schrifttum

»Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist.« Nachkriegserfahrungen im
Ruhrgebiet. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960. Hrsg. von Lutz
Niethammer. Band2. Berlin/Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 1983. 360 S.

Mit dem angezeigten Band liegt nunmehr der zweite von drei geplanten Bänden des Forschungsprojektes
»Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960« vor. Die von Lutz Niethammer
angeleitete Forschungsgruppe trägt hier ihre Ergebnisse über die späten vierziger und fünfziger Jahre vor.
Für die eher grundsätzlichen Überlegungen zur Begründung des Projektes und zur Problematik lebensgeschichtlicher
Interviews und ihrer Auswertung muß der Leser verständlicherweise auf den ersten Band
zurückgreifen (vgl. Besprechung von A. G.Frei in dieser Zeitschrift 1984). Auf der Basis von ca. 200
lebensgeschichtlichen Interviews, die sich auf »Arbeiter und Angestellte der Firma Krupp, weibliche
Angestellte der Firma Thyssen, Hausfrauen aus einer Bergarbeiterkolonie, Basisarbeiter unterschiedlicher
Branchen eines Vorortes, Bergarbeiter und ihre Funktionäre aus dem nördlichen Revier sowie Betriebsräte
der Eisen- und Stahlindustrie« (S. 8) konzentrieren, knüpfen die Bearbeiter an einen der wesentlichen
Befunde des ersten Bandes an: der »Orientierungsoffenheit« der Ruhrbergarbeiterschaft in der unmittelbaren
Nachkriegszeit. Die Fragen nach der Bedeutung dieser »Orientierungsoffenheit« und
nach der Durchsetzung »sozialdemokratischer Hegemonie an der Ruhr« strukturieren die Beiträge des
Bandes.

Lutz Niethammer zeigt in seinem subtil-doppeldeutig »Privat-Wirtschaft« überschriebenen Beitrag
eindrucksvoll, wie der »heimliche Lehrplan« der Nachkriegszeit - aufgespürt in alltäglichen Lernsituationen
- die Annahme des Marktes und die »alternativlose Verinnerlichung der Kleinfamilie« begünstigte. Die
Souveränität, mit der Niethammer in diesem Beitrag die mündlichen Geschichtsquellen (oral history)
handhabt, kann im übrigen nur vorbildlich genannt werden. Da werden Maßstäbe gesetzt. Was oral history
als kritisches Korrektiv zu leisten vermag, zeigt Bernd Parisius in seiner Auseinandersetzung mit
empirischen soziologischen Befunden der 50er Jahre über die Arbeiter in der Montanindustrie. Indem er
seine hermeneutisch gewonnenen Ergebnisse auf die empirisch abgesicherten Aussagen bezieht, gelangt er
zu weitaus differenzierteren und plausibleren Einschätzungen der »resignierten Metallarbeiter« und
»zufriedenen Ruhrbergleute« als die Empiriker vor 30 Jahren. Die Beiträge von Anne-Katrin Einfeldt und
Margot Schmidt beschäftigen sich mit den »Nur-Hausfrauen« in Bergarbeiterhaushalten und mit den
»aufstiegsblockierten« Vorzimmerdamen, zwei Bereichen »klassischer« Frauenarbeit also. In beiden Fällen
gelingt den Verfasserinnen der Aufweis, warum und unter welchen Bedingungen diese auf den ersten Blick
wenig befriedigenden und gesellschaftlich eher gering geschätzten Arbeitssituationen von den betroffenen
Frauen mehrheitlich positiv erfahren und wahrgenommen wurden. So kann Anne-Katrin Einfeldt zeigen,
wie die traditionelle (Familien)Rolle von Arbeiterfrauen durch Krieg und Faschismus aufgebrochen und
verändert wurde, und wie mit den als positiv gedeuteten Erfahrungen als Alleinverantwortliche für
Haushalt und Familie eigene Handlungsfelder erschlossen wurden, durch die die Position der »Nur-
Hausfrauen« der 50er Jahre deutlich von der ihrer Mütter abwich. Auch Margot Schmidt kann am Beipiel
der »Vorzimmerdamen« bei Thyssen die subtilen Mechanismen nachzeichnen, die es den betroffenen
Frauen ermöglichten, ihre Situation trotz der objektiven Diskriminierung am Arbeitsplatz dennoch positiv
zu erfahren. In seinem Beitrag über die »Kruppianer« geht Ulrich Herbert dieser »Sonderform proletarischer
Existenz« nach und fragt nach den Intentionen betrieblicher Sozialpolitik und den Rezeptionsformen
bei den betroffenen Arbeitern. Er kann dabei zeigen, wie aus der Komposition von realen und symbolischen
Angeboten und der Möglichkeit, die sozialen Träger der »eigenen relativen Sicherheit exakt auszumachen«,
die identitätsstiftende Wirkung des »Mythos vom Kruppianer« entstand. Obwohl in den 50er Jahren die
staatliche soziale Sicherung die von Krupp gebotenen Leistungen bei weitem in den Schatten stellte und vor
allen Dingen für alle galt, blieb der »Mythos vom Kruppianer« noch lange als »nostalgischer Nachklang«
gleichsam in der Luft hängen. Die beiden abschließenden Beiträge von Michael Zimmermann und
Alexander von Plato beschäftigen sich mit den »Basiseliten in der Metallindustrie einer Großstadt und in
Bergarbeiterkolonien des nördlichen Reviers«. Sehr plastisch und plausibel können sie die spezifischen
Bedingungen der Durchsetzung sozialdemokratischer Hegemonie im Revier entwickeln. Ein entscheidender
Mangel dieses »professionellen Netzwerkes« aus »betrieblichen, gewerkschaftlichen, kommunalen,
politischen und sozialstaatlichen Funktionen und Verbindungen« (S. 356) scheint beiden Bearbeitern der
fehlende »Unterbau« der >alten< Arbeiterkulturbewegung zu sein. Ein Mangel freilich, der über 30 Jahre
nicht als solcher virulent wurde, mit dem Ende des Wachstumskapitalismus aber an Bedeutung gewinnen
könnte.

Was hier nur schlaglichtartig angerissen werden konnte, ist insgesamt eine eindrucksvolle Demonstration
dessen, was oral history vermag, wenn sie sich nicht als der, sondern als ein methodischer Zugriff

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