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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1993/0211
Besprechungen

Cristan zu identifizieren (Riha, S. 44; Brunner, S. 564). Davon kann überhaupt keine Rede sein
- es handelt sich um nicht mehr als eine vage Möglichkeit, die alles andere als bewiesen ist.
Eine solche Gleichsetzung drängt sich bei der unbefangenen Lektüre des Textes nicht auf, sie
ist vielmehr das Resultat einer bestimmten Gesamtinterpretation des Textes. Die überaus
suggestive Mischung von Hypothesen über den historischen Hintergrund des Textes mit
literaturwissenschaftlichen Argumenten, die wiederum aus einer ganz bestimmten Lektüre des
Textes resultieren, macht es schwer, den Eindruck, daß die Befunde häufig überinterpretiert
werden, im Rahmen einer kurzen Rezension hinreichend konkret zu belegen.

Für die historischen Teile glaube ich das Urteil vertreten zu können, daß Lutz den allzu
spröden Quellen in dem verständlichen Wunsch, sie in seine Gesamtinterpretation einordnen
zu können, Aussagen abnötigt, die über das hinausgehen, was die Archivalien bei unvoreingenommener
Auswertung preisgeben. Nicht zuletzt werden die fünf mehr oder minder belangvollen
Lebenszeugnisse des Konstanzer Advokaten mit so viel exemplarischer Bedeutung
beladen, daß man um die Fahrtüchtigkeit des Lutzschen Schiffs durch die Bodenseelandschaft
um 1400 fürchten muß.

Lutz geht von einer einzigen Familie Wittenwiler aus und skizziert überaus eindrucksvoll
ihre vermeintliche Sozialgeschichte. Kann es sich aber nicht genausogut um mehrere nicht
notwendigerweise zusammenhängende Familien handeln, die aufgrund ihrer Herkunft aus
Wittenwil so benannt wurden? Lutz spricht bei der Beschreibung der Meininger Handschrift
von dem »Wappen der Familie Wittenwiler«, einem Steinbock (S. 416). Merkwürdigerweise
geht er bei den ausführlichen familiengeschichtlichen Darlegungen überhaupt nicht darauf ein,
für welche Namensträger dieses Wappen (im Siegel) belegt ist, obwohl sich eine solche
»Gegenprobe« einem methodenbewußten Historiker geradezu aufdrängen würde. Leider gilt
für das ganze Buch, daß an die Stelle einer offenen Auseinandersetzung mit möglichen
Gegenargumenten häufig eine rhetorische Darstellung tritt, die nur die eigene Interpretation
als möglich oder in sich stimmig erscheinen läßt.

Lutz setzt eine allegorische Tiefenschicht der Textbedeutung an, die nur in einem kleinen
eingeweihten Kreis verstanden werden konnte. Für ihn besteht die geniale Idee Wittenwilers
darin, »den welthaltigen Bauernhochzeitsschwank als Grundlage für eine Synthese zu nutzen,
die lateinische und volkssprachliche Traditionen, gelehrte Weltdeutung in philosophischem
Rahmen und populäre Unterhaltung mit lehrhaftem moralisierendem Anspruch so vereinigte,
daß sich die Fabel des Schwankes (und ihre lehrhaften Einschlüsse) und die anspruchsvolle
allegorische Konzeption zwar einerseits fast vollständig zu durchdringen vermochten, andererseits
aber - je nach Perspektive der Rezipienten - in verschiedene, in sich hinreichend
konsistente Sinnebenen auflösten« (S. 438). Bleibt der tiefere Sinn des Textes somit weitgehend
im Verborgenen und tritt er nur punktuell an die Oberfläche des Textes, so entzieht sich die
Interpretation von Lutz, so schlüssig sie auch in sich sein mag, der empirischen Überprüfung.
Viele Möglichkeiten ergeben zusammengenommen keine Evidenz - eine Indizienkette ist nun
einmal nur so stark wie ihr stärkstes Glied. Wenn Lutz Anspielungen auf Konstanzer Bürger
um 1400 glaubt ausmachen zu können, so kann er sich nicht auf starke Argumente berufen.
Hätte Wittenwiler »Haintzo mit der gaiss« etwa das richtige Wappen des angeblich mit dieser
Figur verspotteten Cristan beigelegt und die von Lutz vermutete Anspielung auf den Namen
des Konstanzer Weinhändlers (Vers 274 »Erst bin ich ze cristan worden«) damit für uns
überprüfbar gemacht, so ließe sich die Grundthese überaus subtiler Verweise, die Hinweise
und Verschleierung zugleich seien (S. 345), nicht aufrechterhalten. Die von Lutz vorgelegte
Interpretation ist demnach - zumindest partiell - nicht falsifizierbar. Wie aber soll man eine
Entscheidung zwischen mehreren denkbaren Interpretationen treffen, die in sich stimmig,
aber nicht am Text überprüfbar sind?

Hans-Georg Gadamer hat mit Blick auf Carl Schmitts Hamlet-Deutung bemerkt, Schmitt
unterschätze die Schwierigkeiten, den Zeitbezügen eines Kunstwerks nachzuforschen: »Er
glaubt, den Bruch im Spiel erkennen zu können, durch dessen Riß die zeitgenössische

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