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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1997/0070
Peter Thaddäus Lang

Bis weit in die Neuzeit hinein galt der Grundsatz, daß alles aus dem Leib herausgelassen
werden müsse, was herauskommen wolle. Jedes Zurückhalten, so war die Ansicht, schade der
Gesundheit. Als Folge dieser Auffassung wurde allenthalben und außerordentlich viel gespuckt
und geschneuzt, wobei man als einzige Einschränkung akzeptierte, daß weder der
Eßtisch noch die Mitmenschen getroffen werden dürften13.

Dementsprechend erfolgte das Entleeren von Darm und Blase augenblicklich stets dort,
wo man den Drang dazu verspürte: jede Mauer, jede Hecke, jeder Graben bot sich hierfür an14.

Die beschriebene Einstellung zu den Leibesfunktionen bezieht sich natürlich gleichermaßen
auf die Sexualität. In einer überwiegend agrarisch ausgerichteten Gesellschaft sind die
Modalitäten der Fortpflanzung im wahrsten Sinne des Wortes allgegenwärtig; die Kenntnis
hiervon gehörte schlichtweg zum bäuerlichen »Basis-Wissen«.

Dies kommt ganz deutlich zum Ausdruck bei den Hochzeitsbräuchen des Mittelalters, die
noch bis weit in das Reformationszeitalter hinein im Schwange waren. Sobald sich der Hochzeitstag
seinem Ende zuneigte, schritt die Festgesellschaft in feierlichem Zuge zum Brautgemach
. Dort wurde die Braut in Anwesenheit der Festgäste von den Brautjungfern entkleidet
und ebenso öffentlich vollzog das Hochzeitspaar dann die Ehe15.

Der selbstverständlich-alltägliche Umgang mit der Sexualität bekundet sich besonders
pointiert bei der käuflichen Liebe. Im öffentlichen Leben der mittelalterlichen Stadt hatten die
betreffenden Frauen ihren festen Platz. Die »Frauenhäuser« befanden sich oftmals dermaßen
straff unter der Kontrolle der Stadtobrigkeit, daß die Bewohnerinnen schon fast als städtische
Bedienstete erschienen. Häufig waren auch sie es, die man hohen Gästen zur Begrüßung entgegenschickte
- bisweilen gar boten die Stadtväter ihrem vornehmen Besuch den unentgeltlichen
Aufenthalt in besagtem Hause als eine ganz spezielle Art der Gastfreundschaft an16.

Es wird wohl nicht notwendig sein, das hier skizzierte Bild mit weiteren Einzelheiten auszumalen
.

Kehren wir also zurück zu unseren frisch ordinierten und investierten Priestern: Sie waren
in dieser grellbunten, freizügigen und lebenshungrigen Welt aufgewachsen. Auch nachdem sie
die Priesterweihe empfangen hatten, lebten sie weiter in dieser Umgebung; solchergestalt fühlten
, dachten und handelten sie - eben als Menschen ihrer Zeit, und zwar natürlich ohne jedes
Schuldgefühl.

Zudem lebten die Ortsgeistlichen frei von der Maxime, ihrer Gemeinde als Vorbild dienen
zu müssen17. Dergestalt ergab sich denn ein denkbar geringer Abstand zwischen Pfarrer und
Laienschaft18, wie ja auch ganz allgemein Kirche und Welt überaus eng miteinander verwoben
waren.

So diente beispielsweise der Kirchturm vielerorts auch als Wachtturm und das Kirchengebäude
selbst in Kriegszeiten als Zufluchtsort für die Bevölkerung19; der Pfarrer seinerseits hatte
nicht nur gottesdienstliche Aufgaben wahrzunehmen, sondern auch der weltlichen Gemeinde
zu dienen, indem er den Farrenstall betrieb oder das gemeindeeigene Vieh hütete20.

13 Elias (wie Anm. 11), S. 194-213.

14 Ebd.,S. 175-194.

15 Ebd., S. 243.

16 Ebd., S. 242.

17 Erwin Gatz (Hg.): Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts Bd. 1: Die Bistümer und ihre Pfarreien. Freiburg/Br. 1991, S. 45.

18 Karl Schulz: Die niedere Weltgeistlichkeit in der Zimmerischen Chronik. Diss. phil. Halle 1924.

19 Thomas Paul Becker: Konfessionalisierung in Kurköln. Untersuchungen zur Durchsetzung der katholischen
Reform in den Dekanaten Ahrgau und Bonn anhand von Visitationsprotokollen 1583-1761
(Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn Bd. 43). Bonn 1989, S. 34-38.

20 Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang u. a. (Hg.): Repertorium der Kirchenvisitationsakten
aus dem 16. und 17. Jahrhundert in Archiven der Bundesrepublik Deutschland Bd. 1: Hessen. Stuttgart
1982, S. 43, 199, 200 (»gemeine Dienste«), 202,207,208.

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