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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1997/0118
Ute Weidemeyer-Schellinger

Gegenteil, das war vielleicht klug, aber wie das auf mich geschwind gewirkt hat! Ich bin heim,
ich war den Tränen nahe. Aber im Grunde genommen war man froh, daß es so vorbeigegangen
ist«29.

Ein kontrastierendes Bild zu den zitierten Interviewpassagen vermitteln die historischen
Quellen, in denen die militärische Niederlage der deutschen Armee hervorgehoben wird.
»Hart und schwer waren jene Tage und bitter das Bewußtsein, besiegt und machtlos am Boden
zu liegen. Eines ist uns geblieben, die Heimat blieb erhalten. Nicht mutlos haben wir die Hände
in den Schoß gelegt. Voll Gottvertrauen wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Jeder Arbeitstag
ist für jeden Menschen ein Geschenk von oben. In wenigen Jahren hat sich das große
Wunder des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufstiegs unserer Gemeinde
vollzogen. Auch wenn die äußerlichen Spuren des Krieges weitgehend verwischt sind, so ist
doch in vielen Herzen eine tiefe, schmerzende Wunde geblieben«30. »Noch nie ist ein Heer so
gründlich besiegt worden wie die einst so stolze Armee Hitlers. Ein furchtbares Bild des Jammers
und des Elends, wenn man bedenkt, wieviel Not, Schmerz, Elend, Hunger, Entbehrung,
Leid, Sorge in ganz Europa durch einen Wahnsinnigen verursacht wurde, Vernichtung von
Milliardenwerten, Vernichtung und Verstümmelung von zig Millionen Menschen«31.

Obwohl das Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 zuallererst eine Befreiung von der
Bedrohung des Krieges, vielleicht auch eine Befreiung vom NS-Regime war, lag dem Gefühl,
befreit zu werden in vielen Fällen das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins zugrunde: Man
sah sich als Spielball >höherer Mächte« - man sah und sieht sich als Opfer. Diese erinnerte
Wahrnehmungsperspektive bestätigt in ihrer Ambivalenz die Behauptung, man fühlte sich befreit
und besiegt zugleich, man sah sich sowohl generell als Opfer des Krieges als auch als Opfer
der Sieger im speziellen. Hierbei scheint die Überlegung sinnvoll, ob nicht die Überzeugung
, selbst Opfer zu sein, als Verdrängungsmuster gesehen werden muß - Flucht in die Opferperspektive
als Flucht vor der Verantwortung. Opfer sein erübrigt die Fragen nach
Beteiligung, und auch die Frage nach Verantwortung muß nicht mehr gestellt werden. Die
größeren und kleineren Formen der Beteiligung und des Mitmachens bleiben somit in der Erinnerung
weitgehend ausgespart, bleiben verdrängt.

Aus welchen Gründen aber sehen sich heute noch viele Menschen als Opfer, wenn sie ihre
Erinnerungen erzählen? Ist die psychische Belastung heute noch so groß, daß Erinnerungen,
die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein könnten, nicht zugelassen werden
?

Das bis heute andauernde Festhalten mancher Menschen an der Opferperspektive ist möglicherweise
eine Art kollektiver Täuschungsversuch, der die Frage nach Verantwortung und
Schuld abwehren will, bevor sie gestellt werden könnte.

Viele Interviewpartner/innen legen das Unglück, daß sie beim Einmarsch und der Besatzung
erlebt haben, in der Erinnerung den Franzosen und deren Besatzungspolitik zur Last
und ersparen sich somit die Auseinandersetzung mit dem Nazismus und seiner Verantwortung
. Nur einige Gesprächspartner/innen haben bei Kriegsende ebenso wie heute nicht nur
die Greuel der Franzosen gesehen, sondern erkannt, daß dies Antworten auf deutsche Verbrechen
waren: Plünderungen wurden mit Plünderungen, Vergewaltigungen mit Vergewaltigungen
beantwortet - dem »Recht« der Sieger entsprechend. »Das ist das Recht des Siegers, zu
plündern und zu vergewaltigen. Da ist alles frei. Das Verhalten der Franzosen war schon eine
Art Rache. Das ist klar, der Sieger ist immer der Sieger. Und der kann sich ja alles herausnehmen
, der kann sich alles erlauben«32. »Ja, wie's eben ist, wenn man einem die Oberhand gibt
und als Besiegter da ist. Dann kann der Sieger machen, was er will. Da gibt's dann keine Gren-

29 Interview mit Herrn G. am 29.4.1991.

30 Burladinger Heimatbuch, S. 118.

31 Chronik der katholischen Pfarrgemeinde Burladingen, Mai 1945.

32 Interview mit Frau F. am 16.4.1991.

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