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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2002-03/0490
Rollender Stein und schlafender Kaiser

Dieser Traum wurde in der christlichen21 und jüdischen Tradition22 bald zu düsteren
Visionen vom aufeinander folgenden Untergang der Weltreiche umgedeutet, des
baylonischen, persischen, griechischen und schließlich des römischen Reiches, dessen
Zerstörung angeblich das Ende der Zeiten ankündigte. Bis weit in die Neuzeit hinein
bildete die Danielsche Auslegung die Basis heilsgeschichtlicher Überlegungen und
Spekulationen. Spätestens mit dem faktischen Ende des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich diese Prophetie überlebt.
Da die Welt bekanntlich auch nach der Niederlegung der Römisch-deutschen Kaiserwürde
durch Franz II. weiterbestand, verloren der Traum Nebukadnezzars und die
Danielsche Interpretation ihre frühere Legitimationskraft; sie waren nun gewissermaßen
für neue Deutungen freigegeben. Der Hechinger Rabbiner bezog, da die
beilige Schrift für alle Zeit geschrieben23 sei, den Traum tagespolitisch auf den Anfall
Hohenzollerns an Preußen. Einleitend erinnert er an die zurückliegenden revolutionären
Erschütterungen, die zum Verlust der zollerischen Selbständigkeit geführt
hätten und spricht die Ängste an, welche die Menschen beim Übergang an die neue
Herrschaft bewegen: Der neue König kennt uns noch nicht, und seine Beamten wissen
noch wenig von uns; muß da nicht die Seele ängstlich in die Zukunft schauen? Ja,
die ganze Erscheinung ist ein Traum, und wir wissen nicht, was wir geträumt haben,
und was die Auslegung des Traumes ist!2"1 Samuel Mayer selbst schlüpft nun in die
Rolle des Propheten und wagt, obgleich er sich der Anmaßung bewußt ist25, eine
Deutung des traumatischen zeitgeschichtlichen Umbruchs. In der Vision Nebukadnezzars
erblickt er das Bild des ungleich Zusammengesetzen untergegangenen deutschen
Reiches, bestehend aus einem Kaiser und mehreren Fürsten von größerer und
kleinerer Macht, ohne innigen Zusammenhang [...]26. Der Stein aber, der sich vom
Berge löste und das Standbild zerstörte, nahm laut Samuel Mayer seinen Ausgang
vom Hohenzoller, dem Stammsitz der preußischen Königsdynastie: Die wachsende
Macht des Hohenzoller glich dem Steine, der das Bild im Norden zerstörte, und sich
selbst zum Berge erhob, denn sein Reich wurde immer umfangreicher und gewaltiger
, und seine Herrschaft erstreckte sich über Meere und Seen, über Ströme und
Flüße. Jetzt ist sein Reich die fünfte Großmacht Europas, gewichtig ist seine Stimme
im Frieden, entscheidend seine Waffe im Kriege27. Der Zoller symbolisiert für May-

21 Vgl. Martin Haeusler: Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik.
In: Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 13, Köln/Wien 1980, Manfred Gerwing: Weitende,
Weltzeitalter. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp. 2168-2172; Christoph
Auffarth: Mittelalterliche Eschatologie. Religionsgeschichtliche Untersuchungen. Göttingen
1999.

22 Samuel Mayer verweist auf Ebn Jechias Kommentar zu Daniel 2, 45.

23 Samuel Mayer, Der Stein und das Bild (wie Anm. 18), S. 6.

24 Ebd., S. 5.

25 Vergib, Allwissender, wenn ich es wage, Deine Geheimnisse zu erforschen; aber Deine
Thaten sprechen laut, und Deine Zeugnisse sind klar, daß wir aus der Vergangenheit die
Zukunft enthüllen können. Erleuchte unsem Geist, daß wir Dich erkennen, und die Wahrheit
finden.(S. 6).

26 Ebd., S. 7.

27 Ebd., S. 8.

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